Lifenotes: „Mit Musik da weitermachen, wo Sprache nicht weiterkommt.“

Verfasst von Pati am 08/11/18

Vor einiger Zeit habe ich schon mal etwas darüber geschrieben, wie Musik therapeutisch eingesetzt werden kann (s.u.: „Musik ist nicht nur zum Hören da, sondern auch zum Heilen.“). Da ging es mehr darum, sie zu hören, mitzusingen oder sehr einfach Instrumente zu spielen, wie man es in der klassischen Musiktherapie macht. Doch kann man auch richtiges Songwriting therapeutisch einsetzen? Das kann man und das Projekt Lifenotes zeigt, wie es geht.

 

Ins Leben gerufen wurde es von Carry und Ron Traub, die in Bad Wörishofen im Allgäu ihr Workshop Seminarstudio betreiben. Die Beiden machen bereits seit 30 Jahren Musik. Irgendwann ist ihnen aufgefallen, dass Musik mehr kann, als nur Gefühle generieren oder verstärken, dass Songs auch eine Kraftquelle sein können.  Vor 10 Jahren entwickelten sie daraus ein Projekt, bei dem sie mit Trauernden, Krebskranken, Straßenkindern oder Süchtigen arbeiten.

 

Innerhalb eines Tages kreieren sie mit den Gruppen ein eigenes Lied, das diese dann auch aufnehmen und sich zu Hause immer wieder anhören können. Im Psychotherapeutischen nennt man das einen Anker, etwas, an dem man sich festhalten kann, wenn es einen mal wieder nach unten zieht. Die Kombination von Songwriting und Performance ist ein „Ventil für Kopf und Herz“ und gibt den Teilnehmern die Freiheit, alltägliche Normen zu sprengen. Einfach mal laut Scheiße zu schreien oder den Krebs, der sie auffrisst, als Arschloch zu beschimpfen.

 

Das Songwriting eröffnet den Betroffenen die Möglichkeit, sich mit ihrem Thema einmal auf eine andere Art auseinanderzusetzen. Dabei erforschen sie Fragen wie: Wie hören sich meine Gefühle an oder wie klingt meine Biografie? So wird es mehr als nur ein Text: Es ist eine Auseinandersetzung mit ihrem Innersten. Die Performance ist frei von dem Druck gefallen zu müssen, hier geht es nur darum, den Gefühlen freie Bahn zu lassen. Da darf geschrien, geweint oder auch nur aufgesagt werden. Hauptsache, es ist authentisch.

 

Hier ein eindrucksvolles Beispiel, was dabei herauskommen kann:

 

 

In Abgrenzung zum therapeutischen Songwriting nennen Carry und Ron ihren Ansatz intuitives Songwriting. Denn das therapeutische ist eine Intervention auf Basis von wissenschaftlicher Lehre und Forschung. Und Wissenschaftler sind die Beiden ganz und gar nicht. Sie sind mit Leib und Seele Musiker und strahlen eine Offenheit und Leichtigkeit aus, die sicher auch ihren Anteil an der heilsamen Wirkung eines kreativen Tages mit ihnen haben.

 

Ab 2019 wollen die beiden Musiker ihr Know-how auch an andere weitergeben. Bei ihrer neu gegründeten Lifenotes Akademie können interessierte SozialarbeiterInnen, TherapeutInnen, Coaches, ErzieherInnen, SozialpädagogInnen oder andere Berufstätige, die mit Menschen arbeiten, anhand von Modulen oder Kompaktseminaren ihre Arbeitsmethode erlernen und dann als Unterstützung in der Krankheitsverarbeitung, Trauer-, Stress- oder Krisenbewältigung, Resilienzstärkung und Persönlichkeitsentwicklung anwenden. Es wäre zu wünschen, dass das Angebot großen Anklang findet, denn ganz ehrlich: Wäre es nicht eine wunderbare Vorstellung, wenn alle Menschen, die schwierige Themen zu verarbeiten haben, Musik machen würden?

 

Falls ihr jetzt Lust auf die Teilnahme an einem solchen Seminar oder an einer Gruppenarbeit habt, hier gibt’s die Informationen dazu:

 

https://www.workshop-seminar-studio.de/home/ 


Bands ganz intim: Potsdamer Wohnzimmerkultur

Verfasst von Pati am 13/10/18

Stellt euch vor: Eine Band gibt ein Konzert in eurem Wohnzimmer. Manche haben das vielleicht schon in ihren Träumen erlebt. Bei mir war es in den 90ern nach dem Tod von Kurt Cobain ein Privatkonzert von eben jenem, nur für mich, mit Akustikgitarre, ganz gechillt auf einem Barhocker drapiert... Hach... Dass solche Träume Wirklichkeit werden können, beweisen Tobias Beyer und Christian Leonhardt in Potsdam. Dort haben sie die Potsdamer Wohnzimmerkultur ins Leben gerufen, 

 

Am Freitag, dem 13. Mai 2016, fand die Premiere statt. Mit einer Mischung aus Lesung und Konzert. Dass die Veranstaltungsreihe nun schon seit zwei Jahren recht erfolgreich läuft, sollte jedem Abergläubischen unter uns zeigen, dass dem angeblichen Unglückstag sein Stigma ohne jeden Grund verpasst wurde. Seit dem Start gab im Rahmen des alternativen Kultursalons außer Konzerten auch noch Lesungen, Zauber-Shows und  Performances in Läden, Gärten und Kellern.

 

Wie finden die Acts in den privaten Raum? „Bands oder ihre Booker melden sich bei uns. Manchmal schreiben wir auch welche an, die wir schon mal gesehen und die uns gefallen haben“, klärt mich Tobias über die organisatorischen Hintergründe auf. Und auch er hat noch Träume: „Frank Turner hat sich bisher noch nicht zurückgemeldet.“ Was nicht ist, kann ja noch werden. Immerhin bestreitet die 27. Ausgabe der PoWoKu das amerikanische Folk-Duo Handmade Moments, das am nächsten Tag im ZDF Morgenmagazin zu sehen sein wird, und die ehemaligen Gäste Juri spielen mittlerweile in ihrer Heimat Köln schon vor mehreren Tausend Zuhörern.

 

 

Aber es geht weniger um die Bekanntheit der Band, finde ich, sondern viel mehr um das Erlebnis als solches. Mit nur 30 Leuten im Keller auf bunten Kissen, alten Schlitten, einem Bobbycar oder anderen skurrilen Sitzmöglichkeiten zu lümmeln und in der Pause mit den Nachbarn ins Gespräch zu kommen und dabei herauszufinden, dass man aus der gleichen Heimat stammt, ist schon was anderes, als sich in einem dunklen Club eng gedrängt an seinem verschwitzen Nachbarn zu reiben und als klein gewachsener Mensch in der Menge unterzugehen ohne auch nur die hochgeigelten Haarspitzen des Frontmannes auf der Bühne zu sehen. Okay, das ist mal so ziemlich die ungünstigste Version eines Live-Konzerts, aber ist auch schon vorgekommen.

 

Die Idee für die Bespielung solcher intimen Räume ist nicht ganz neu: in Magdeburg existiert das Konzept bereits seit fünf Jahren. Doch das macht es nicht weniger wertvoll. Und wie finden die Veranstalter neue Venues? „Leute schreiben uns an und oft haben schon unsere eigenen Wohnungen, Arbeitsplätze oder WG-Zimmer als Bühne hergehalten“, verrät mir Tobias. Wenn ihr also in Potsdam wohnt und euer größter Traum ist, dass Frank Turner in eurem Schlafzimmer auftritt, dann meldet euch einfach über die Facebook-Seite oder per Mail bei den Organisatoren. Vielleicht geht er dann bald in Erfüllung!


Warum verursacht Musik Gänsehaut?

Verfasst von Pam am 17/02/18

Das letzte Lied, bei dem ich hemmungslos weinen musste, war Kettcars „Sommer ’89“. Ein Lied über einen Idealisten, einen Menschenfreund, der DDRlern bei der Flucht in den Westen hilft. Der Text in Verbindung mit der Musik hat mich direkt ins Herz getroffen. Warum kann uns Musik so aufwühlen? Wieso lassen uns bestimmten Musikstücke wohlig erschaudern oder in Tränen ausbrechen?

 

Der Arzt Eckart Altenmüller ist Gänsehaut-Experte. In einem Interview erklärt er der Journalistin Franziska Seybold, warum wir bei bestimmten Musikstücken Gänsehaut bekommen. In der Fachsprache wird das „Chill-Reaktion“ genannt. Unser Körper reagiert z.B. auf überraschende strukturelle Veränderungen in einer Komposition, auf den Anfang von etwas Neuem oder auf die Erhöhung der Lautstärke. Allerdings reagieren nicht alle Menschen gleich auf Musik. Es hängt sehr stark vom persönlichen Geschmack, der Hörbiographie, der Genetik und der gesellschaftlichen Prägung des Hörers ab.

 

Der Klang der Stimme ist im Menschen tief emotional verwurzelt. Mit der Stimme drücken wir schon als Babys Emotionen aus. Die physikalische Klangerzeugung bei Streichinstrumenten ähnelt der unserer Stimmlippen. Die Klänge von Geige, Cello und Bratsche berühren uns emotional genauso wie die von Doppelrohrblattinstrumenten wie Oboe und Fagott. Das Klavier hingegen besticht mit seiner unglaublichen Klangfülle. Mit der großen Spannbreite an sehr tiefen und sehr hohen Tönen schafft es einen Klang, der uns einhüllt.

 

Die Emotionen, die wir beim ersten Hören eines besonders bewegenden Musikstückes haben, werden im assoziativen Gedächtnis gespeichert. Es ist verantwortlich für gewohnheitsmäßige Verhaltensweisen wie Assoziation, Reproduktion und den bedingten Reflex. Allerdings bekommt nicht jeder Gänsehaut-Gefühle, wenn er Musik hört. Die rational denkenden, detailliebenden Menschen nehmen oft gar nicht wahr, wie bewegt sie von einem Lied sind. Trotzdem ist es gut zu wissen, dass Musik unsere Emotionen triggert. In diesem Sinne: Musik aufdrehen und glücklich sein.


Musik ist nicht nur zum Hören da, sondern auch zum Heilen

Verfasst von Pati am 23/04/17

Wenn ich mich mit Bands über den kreativen Prozess des Musikschreibens unterhalte, höre ich immer wieder, dass er für sie einen quasi-therapeutischen Effekt hat. Sie schreiben sich ihre Gefühle, Gedanken und Erlebnisse von der Seele – die positiven wie die negativen. Dass das Schreiben etwas Kathartisches hat, weiß jeder, der Tagebuch schreibt: Sind die Gedanken auf Papier gebannt, schwirren sie einem nicht mehr im Kopf rum und er ist wieder frei. Doch was ist mit der Musik an sich, hat die auch eine heilende Wirkung? Ja, das hat sie und es gibt sogar eine Therapierichtung, die damit arbeitet: die Musiktherapie.

 

Simone Willig ist Dipl.-Musiktherapeutin, Neurologische Musiktherapeutin und Heilpraktikerin für Psychotherapie und arbeitet seit ca. 20 Jahren in ihrem Traumjob rund um ihre Schwerpunkt-arbeitsgebiete Demenz, Neurologie und Palliative Care.

 

Ich hatte die Gelegenheit, mich mit ihr über die Wirkung von Musik im therapeutischen Setting, die Anwendungsgebiete der Musiktherapie und ihre ganz persönlichen Vorlieben und Abneigungen im musikalischen Bereich zu unterhalten.

 

 

 

Viele Bands erzählen mir immer wieder, dass das Schreiben von Songs für sie etwas Therapeutisches hat und beim kreativen Prozess ganz viel passiert. Aber was passiert auf der Seite des Rezipienten, was kann man sich unter dem Begriff „Musiktherapie“ vorstellen?

Spannende Frage. Ist Musik immer gleich Musiktherapie? Wenn wir von der klassischen Definition ausgehen, dann wird in der Musiktherapie Musik als Mittel zum Zweck eingesetzt, um Ziele zu erreichen, die mit der Musik an sich nichts zu tun haben. Es kann sein, dass du im emotional-seelischen Bereich an deiner eigenen Entwicklung arbeiten möchtest, es kann sein, dass du ganz konkret in einem Krankheits-Setting, zum Beispiel nach einem Schlaganfall, ein Aufmerksamkeitstraining mit Musik absolvierst, dass du wieder lernst zu laufen... Das geht alles besser, wenn du es mit Musik übst. Die Musiktherapie wird auch dabei eingesetzt, dass du eine andere, eine kreative Art der Begleitung hast, wenn du schwer krank bist. Es gibt also unterschiedliche Ansätze, aber die Musik ist im Grunde immer nur das Mittel zum Zweck. Was das Musikhören angeht, da beschreiben ja viele auch im Alltagsgebrauch einen gewissen Healing-Effekt. Das kennen wir alle vom eignen Erleben, dass du mit deinen Lieblings-Songs ganz eng verknüpft bist, dass es Musik gibt, zu der es sich supergut bügeln lässt oder zu der man schnell die Wohnung geputzt hat. In jedem Fall ist es so, dass Musik so stark an unser Gehirn andockt, weil sie auf Areale zugreift, die sehr sehr alt sind. Das heißt, wenn Musik auf unseren Kopf trifft, dann trifft sie unweigerlich auf unser Gefühlszentrum, das limbische System, und dort werden von der Musik ganz viele Emotionen ausgelöst. Es werden Erinnerungen getriggert und innere Bilder provoziert und gleichzeitig vernetzt und verschaltet sie verschiedene Bereiche deines Gehirns miteinander. Sie pusht deine Datenautobahn und das hat natürlich einen ganz großen Effekt. Bestimmt entsteht da auch so eine Wechselwirkung. Wenn eine Band oder ein Musiker sich bei einem Song ganz viel gedacht haben und viel an eigenem Herzblut und eigenen Geschichten reinstecken, dann überträgt sich sicherlich auch das und sorgt für Anklang und Vernetzung bei dir.

 

Genau, mit dem Rezipienten, mit dem er so eine gemeinsame Ebene schafft, weil der sich angesprochen fühlt, weil er vielleicht mal etwas Ähnliches erlebt hat, wenn es um den Text geht. Aber die Melodien ziehen einen manchmal auf ganz andere emotionale Ebenen, zwischen Dur und Moll gibt es da ja einen riesigen Unterschied.

Es kommt auch darauf an, wie wir mit Musik sozialisiert wurden, wie wir mit ihr aufgewachsen sind. Die spannende Frage ist: Liegt es an der Musik oder liegt es auch daran, wie wir gelernt haben, mit Musik umzugehen oder sie zu nutzen? Ende der 90er, Anfang der 2000erJahre gab es dazu ganz spannende Untersuchungen, bei denen man mit Bergvölkern gearbeitet hat, die sonst mit unserer Musik wenig zu tun haben. Sie haben Musik, die wir als traurig oder melancholisch beschreiben würden, emotional ähnlich erlebt oder erfasst, obwohl sie sie nie zuvor gehört hatten. 

 

Also hat es etwas Archaisches, ähnlich wie die von C.G. Jung beschriebenen Archetypen.

Ja, irgendetwas muss es da geben. Wahrscheinlich wird die Musik auch nie ihr allerletztes Geheimnis verraten, aber es gibt ganz viele Punkte, auf die man jetzt mit der Forschung oder mit der Hirnforschung näher schaut und versucht herauszufinden, wie unser Gehirn Musik verarbeitet. Es verarbeitet es ähnlich wie Sprache, das heißt, für unser Gehirn hat Musik Bedeutung tragende Signale. Wir verstehen Musik ähnlich wie wir einen gesprochenen Satz verstehen. Das ist im therapeutischen Bereich sehr bedeutsam, aber es ist vielleicht auch eine Erklärung dafür, was es auf archaischer Ebene mit uns macht. 

 

Was den therapeutischen Bereich angeht, hast du ja vorhin schon mal Anwendungsgebiete angerissen, aber was sind denn die typischen Bereiche, in denen du mit Musiktherapie arbeitest?

Meine Steckenpferde liegen auf der einen Seite im neurologischen Bereich. Ich arbeite viel mit Menschen mit Demenz. Da gibt es immer wieder ganz spannende Erlebnisse. Im Rahmen einer Demenz gehen ja ganz viele Fähigkeiten verloren, da schwindet alles, was dich kognitiv ausmacht. Du kannst viele Dinge nicht mehr planen, du verlierst deine Sprachfähigkeiten... Um die Musik zu verstehen, braucht das Gehirn nicht viele Fähigkeiten. Wir docken an dieses frühe System an. Und auch all das, was dieses atmosphärische Schwingen etrifft, lässt sich mit Musik mit diesen Menschen ganz wunderbar arbeiten. Die verblüffen dich dann zum Beispiel damit, dass sie sämtliche Strophen von einem Volkslied oder einem Schlager kennen, auch wenn sie sonst vielleicht keinen graden Satz mehr formulieren können, und du selbst musst nach der zweiten Strophe passen. Sie nehmen auch Emotionen sehr deutlich wahr. Das bewundere ich immer bei Menschen mit Demenz. Und sie zeigen sie auch sehr deutlich. Da ist es natürlich toll, so ein kreatives Ausdrucksmedium zu haben. Das andere ist der neurologische Bereich. Vorhin habe ich das schon erwähnt: Schlaganfallpatienten und Wachkomapatienten sind über Musik auch leichter zu erreichen als über das gesprochene Wort. Bestimmte Bereiche des Gehirns lassen sich mit Musik einfach super trainieren. 

 

Gibt es da auch Hirnforschung, die zeigt, dass tatsächlich neue Vernetzungen entstehen?

Ja, wenn du mit bildgebenden Verfahren ins Gehirn hineinschaust, kannst du die Vernetzungen, die über Musik entstehen, sichtbar machen. Es gab da den Fall eines Cellisten, dem nach einer Hirntumor-OP gesagt wurde, dass er nicht mehr laufen oder sprechen können würde. Er spielt inzwischen wieder Cello und das mit einem Arm und er läuft auch wieder. Nach der Operation hatte er darum gebeten, dass er seine Lieblingsmusikstücke über Kopfhörer hören kann und die hat er dann die ganze Nacht laufen lassen. Als man ihn am nächsten Morgen ins MRT geschoben hat, hat man gesehen, dass sich Nervenbahnen wieder miteinander vernetzt haben, die vorher nicht mehr vernetzt waren.

 

Musik baut also wieder auf.

Genau. Das ist zwar so ein Paradebeispiel, aber diese Vernetzung findet immer statt, weil Musik anscheinend in der Lage ist, unser Gehirn sehr gut zu strukturieren. Viele Forschungsergebnisse findet man zum Beispiel bei Michael Thaut, das ist ein deutscher Neurobiologe, der selber auch Musiker ist. Er forscht in den USA, in Denver, sehr viel darüber und hat daraus dann Therapiemethoden entwickelt.

 

Wie kann man sich exemplarisch Übungen vorstellen, die du mit Patienten so machst?

Zum Beispiel arbeite ich mit einem jungen Mann Anfang 30, der aufgrund eines Gendefekts Schwierigkeiten hat, das Gleichgewicht zu halten. Er möchte stabiler stehen und gehen. Es fällt ihm schwer, frei zu stehen, was auch eine Herausforderung beim Laufen ist. Auf gerader Strecke geht es, aber sobald es ein unebener Weg ist oder er Treppen steigen muss, wird es schwierig. Er bekommt Physiotherapie und unterstützend dazu neurologische Musiktherapie. Da baue ich dann Instrumente so auf, dass er bestmöglich im freien Stand trainiert, sicher auf einer Stelle zu stehen. Wenn er die Instrumente spielt, gibt der Klang seinem Gehirn die Rückmeldung: „Okay, über einen soundso langen Zeitraum gelingt es mir gut, die Übung auszuführen.“ Ich baue zum Beispiel verschiedene Trommeln in verschiedenen Abständen auf und ermutige ihn frei zu stehen. Dazu gebe ich ihm simple Rhythmus-Patterns und er muss versuchen, die jeweilige Trommel zu treffen und dabei den Stand auszubalancieren. Mit jemandem, der aufgrund eines Schlaganfalls eine Fußhebeschwäche hat, kann man super an der Hi-Hat von einem Schlagzeug trainieren, weil man da genau diese Bewegung hat, die man braucht, um die Wadenmuskulatur zu trainieren. Das Gehirn speichert sich einfach ab „ich hab wieder Kraft im Bein“ oder „die Leitung von da oben nach da unten funktioniert wieder gut“. Natürlich schleichst du dann die Musik irgendwann aus, aber der Effekt, den du damit erzielst, ist der, dass über diese neuronale Vernetzung die Körperfunktionen wieder angeregt werden. 

 

Weil das eine dauerhafte Veränderung ist und du nicht die Musik die ganze Zeit brauchst, weil wieder was aufgebaut wurde.

Genau. 

 

Ich hab von einem Phänomen gelesen, dass Anhedonie genannt wird. Es bedeutet im Prinzip, dass Musik bei manchen Menschen gar keine Emotionen auslöst, weder positive noch negative. Hätte das möglicherweise Einfluss auf die Therapie, wobei es ja im therapeutischen Bereich nicht um die Emotionen geht, die Musik auslöst, sondern um die neue Vernetzung der Nervenbahnen. Hast du damit mal Erfahrungen gemacht?

Ich glaube, es war in den 90er Jahren mal schick, eine so genannte Amusie zu diagnostizieren. Ich weiß nicht, ob es das überhaupt gibt, weil in unserem Körper einfach so viele Prozesse laufen, die du auf musikalische Parameter übertragen kannst. Dass zum Beispiel ein ungeborenes Kind mit dem Herzschlag der Mutter groß wird oder dass unser Herz in einem bestimmten Rhythmus schlägt und unser Atem einem bestimmten Rhythmus folgt. Deswegen denke ich, dass es schon Prozesse gibt, die nicht auf das musikalische Erleben fokussiert sind. Dass Musik gar nichts auslöst, kann ich mir nicht vorstellen. Ich glaube schon, dass man auch bei diesen Menschen messen könnte, dass die Sauerstoffsättigung im Blut steigt , wenn sie durch Musik in einen entspannten Modus kommen, auch wenn sie das selbst nicht wahrnehmen oder die Musik für sich nicht emotional einordnen können. 

 

Es kann ja sein, dass die Ausschüttung von Endorphinen, von Glückshormonen, die beim Musikhören stattfindet, bei ihnen gestört ist, aber die anderen Abläufe doch stattfinden.

Das denke ich schon. Musik erreicht einfach Stellen im Gehirn, von denen man es nicht vermuten würde. Wenn auch keine Glückshormone ausgeschüttet werden, kann sie ja aber immer noch eine angst- oder krampflösende Wirkung haben. Das ist auch sehr individuell. Du kannst nicht einfach sagen: „Ich hab hier eine musikalische Hausapotheke, das Stück bei Liebeskummer und alles ist gut.“ Der Musikgeschmack und das Musikerleben sind einfach zu individuell.

 

Gibt es auch Bereiche, in denen Musiktherapie eher kontraindiziert ist, wo du sagst, da ist es schwierig oder da sollte man nicht damit arbeiten?

Da gibt es ein paar Bereiche im psychiatrischen Bereich. Es kommt auch immer auf die Methode an, die du einsetzt. Bei einigen psychiatrische Diagnosen wie Schizophrenie oder verschiedenen Psychosen, kann man von Musik auch ein stückweit überschwemmt werden. Das kennt ja jeder, dass einem manchmal Musik oder die Atmosphäre, die sie schafft, schnell auch mal zu viel wird. Im Rahmen einer Schizophrenie ist dein Gehirn dem Erleben schutzlos ausgeliefert. Wenn du frei interpretierst oder zu viele Klänge aufeinandertreffen, kann es zur Überforderung kommen. Musik kann auch Stress auslösen, nicht nur, wenn man eine psychiatrische Erkrankung hat. Deswegen muss man besonders im therapeutischen Umfeld verantwortungsvoll mit ihr umgehen. 

 

Wenn wir jetzt mal vom therapeutischen Bereich zu unserem Bildungssystem wechseln, da wird ja immer zuerst an den kreativen Fächern wie Kunst und Musik gespart. Findest du, dass Musik mittlerweile zu wenig repräsentiert ist und da mehr gemacht werden sollte?

Absolut und da geht die Schere so weit auseinander, von den positiven Effekten, die Forschungsergebnisse zeigen, und dem, was letztendlich angeboten wird. Aufmerksamkeitsspannen lassen sich zum Beispiel über Musik deutlich erhöhen, einfach dadurch, dass unser Gehirn aktiv arbeitet. Und das hat auch Auswirkungen auf andere Bereiche. Das wird einfach unterschätzt. Neben dem, was es mit dem künstlerisch-emotionalen Ausdruck macht, auf den sich viele konzentrieren, ist es so, dass es auch die Konzentration bei Kindern erhöht, dass das Gespür füreinander wächst, besonders, wenn man in einem Orchester spielt.

 

Weil man sich aufeinander einstimmen muss.

„Einstimmen“ ist da genau das Richtige Wort, weil ich immer darauf achten muss, was als Nächstes kommt, wann ich wieder dran bin. Ich muss mich auch auf die anderen verlassen. Man beobachtet, dass das Sozialgefüge in den Klassen häufig besser ist, dass du dich schneller im Team findest, schneller zusammenarbeitest, weil das Gehirn darauf gepolt ist, sich mehr auf den anderen einzulassen.

 

Zum Schluss kommen wir zum persönlicheren Teil, deinem eigenen Musikerleben. Ein Leben ohne Musik wäre...

...schrecklich! Nicht vorstellbar. Ein absoluter Albtraum, ein absoluter Irrtum.

 

Ein Song, bei dem ich sofort tanzen muss.

Da gibt’s viele... Bei Musik der 80er Jahre muss ich immer tanzen, damit bin ich groß geworden.

 

Ein Song, bei dem ich immer gute Laune bekomme.

Bei allen Songs von Melissa Etheridge.

 

Ein Song, bei dem ich immer weine.

„Slipping Through My Fingers“ von ABBA.

 

Und: ein Song, bei dem ich kotzen könnte.

Ich glaub, „Atemlos“ von Helene Fischer.

 

Simone Willig setzt sich für eine potentialorientierte Sichtweise auf Menschen mit Demenz ein. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit allen angrenzenden Berufsgruppen im Team ist ihr großes Steckenpferd. Dazu ist sie weltweit als Referentin und Seminarleiterin unterwegs und arbeitet unter anderem für Alzheimer Disease international und Alzheimer Europe.

 

www.simonewillig.de

www.trotzdemenz.de

 

Wen darüber hinaus noch mehr interessiert, was Musik so alles mit unserem Gehirn anstellen kann, findet hier interessante Einsichten.