Tall Ships: Größer ist besser und mehr ist mehr

Verfasst von Pati am 14/03/17

Letztes Jahr hat sich überraschend eine meiner Lieblingsbands kurz nach Veröffentlichung ihres erst zweiten Albums aufgelöst: Dry the River. Einen Ersatz für ihren filigranen, verletzlichen, aber zuweilen auch extrem mitreißenden Stil zu finden, der einem besonders live mit treibenden und schrammeligen Gitarren klanglich richtig eins überziehen konnte, hielt ich für unmöglich. Doch dann hörte ich „Day By Day“ von den Tall Ships. Sie halfen mir, meine Trauer zu verarbeiten. Und wie das neue Haustier erinnern sie zwar an den Vorgänger, besitzen aber doch auch ganz neue, sehr eigene Qualitäten.

 

Es gibt sie schon seit 2009. Am Anfang noch als Trio unterwegs, fanden Ric Phethean (Gesang, Gitarre), Matt Parker (Bass) und Jamie Bush (Drums) ihre musikalische Heimat in Genres wie Math  und Post-Rock, aber so richtig zu Hause fühlten sie sich dort nie wirklich. Seit einiger Zeit ist die Band gewachsen, hat als neues Mitglied den langjährigen Kollaborateur James Elliot Field dazugewonnen und ist auch akustisch größer geworden und bei sich angekommen. 

 

Bei einer Stippvisite in Manchester hatte ich das Glück, mit meinem neuen musikalischen Crush sprechen zu können und im Anschluss auch in den Genuss ihrer fulminanten Live-Show zu kommen.

 

Am Ende des Monats kommt euer zweites Album „Impressions“ auf den Markt. Ihr habt euch musikalisch verändert, weil ihr, so konnte ich lesen, den Sound eurer Live-Shows auch auf euren Alben einfangen wolltet. Was können wir erwarten?

Jamie Field: Mehr Lieder.

Matt: Das erste Album war wie eine Kiste voller Ideen, dieses ist durchdachter und strukturierter. 

Ric: Wir haben Chorusse und Verse, das hatten wir auf dem ersten Album nicht. Es ist ein großes Rock-Album. Das haben uns Leute gesagt, die es schon gehört haben, und das ist, was wir live machen: größer ist besser. (lachen)

 

Das ist mir bei den wenigen Liedern, die ich schon hören konnte, auch aufgefallen: Sie klingen hymnenhafter, rockiger. Sie bauen langsam auf und am Ende geht’s richtig zur Sache. 

Jamie F: Mehr ist mehr. Das haben wir extrem ausgereizt.

 

Jamie, du bist ja jetzt ein neues, festes Mitglied der Band. Was ist dein Einfluss?

Jamie F: Ich habe schon bei ihrer ersten EP als Tontechniker mit ihnen zusammengearbeitet. Ich habe sie gemischt. Dann habe ich ihr erstes Album mit ihnen aufgenommen. Als sich die Band, in der ich bis dahin gespielt habe, aufgelöst hat, haben sie gesagt: „Komm doch zu uns.“ Das hab ich dann gemacht. (lachen) Aber weil ich schon viele Jahre mit ihnen gearbeitet hatte, war das wie der nächste natürliche Schritt.

 

Bringst du einen besonderen Sound mit?

Jamie F: Die Atmosphäre. 

Matt: Das Glitzern. 

Ric: Den Sternenstaub.

 

Du bist quasi die gute Fee. 

Jamie F.: (lacht) Im Grunde ja.

 

Was für einen Einfluss hat es, dass ihr an der Küste lebt? Ihr mögt auch Sigur Rós, die aus Island kommen. Das ist komplett von Wasser umgeben. Ich denke, irgendwie hört man das raus, wenn eine Band am Wasser lebt.

Ric: Ich glaube, dass es auf jeden Fall die Musik beeinflusst. Es ist ein großartiger Ort, um den Gedanken nachzuhängen. 

 

Man hat den Horizont, die Sicht ist nicht eingeengt.

Ric: Genau. Man kann überall sitzen und sieht fast gar nichts um sich rum. Hm, schwierige Frage...

Jamie F.: Ich glaub, du bist da auf was gestoßen.

  

Ich denke, man ist vielleicht nicht so eingeschränkt und der Geist kann sich weiter öffnen.

Ric: Stimmt, im Gegensatz zu einer Stadt, wo überall Gebäude sind, kann man hier zum Meer gehen und sieht nichts. Das ist sehr erfrischend.

Jamie F.: Man hat eine leere Seite. Dein Geist kann sich entspannen und tun, was er tun will, ohne dass er von irgendwas beeinflusst wird.

 

Wie in der Meditation. Die soll ja auch die kreative Energie befreien. Aufs Meer rauszuschauen ist ja auch wie meditieren.

Jamie F.: Man wird von keinen äußeren Einflüssen gestört. Man hört mehr in sich rein.

 

Ric, du hast mal gesagt: „Ich würde lieber auf die Texte schauen und mich ein bisschen für sie schämen, als das Gefühl zu haben, ich hätte nichts gesagt.“ Das ist, wie wenn man ein altes Tagebuch liest. Aber bei Liedern bekommt es jeder mit, es ist nicht privat. Das muss manchmal ganz schön schwer sein.

Ric: Ja, manchmal ist es schwierig, die Songs live zu spielen, weil sie von Gefühlen handeln, die ich vor langer Zeit hatte und mit denen ich nicht unbedingt wieder konfrontiert werden will. Aber manchmal kann ich das auch abschalten und es fällt mir gar nicht schwer. Besonders auf dem neuen Album gibt es vieles, das ich nie jemandem sagen oder in ein Tagebuch schreiben würde. Die Musik ist toll, um das alles rauszulassen. Mir fällt es leichter, das durch einen Song zu tun als in einem Gespräch.

 

Sich tausenden von Menschen zu öffnen ist einfacher, als es nur einer Person zu sagen?

Ric: Auf jeden Fall! Das sind alles Fremde.

Jamie F.: Die kennt man alle nicht. Es ist ganz anders als bei jemandem, den man kennt.

 

Der einem was bedeutet. Und dessen Reaktion einem wichtig ist... 

Jamie F.: Man fühlt sich anders, wenn man bei einer Show viele Leute kennt. 

Ric: Ja, das ist fürchterlich. 

Jamie F.: Wenn man im Publikum jemanden erkennt, wird man nervös. Wenn man niemanden kennt, hat man nicht das Gefühl, sich zum Affen zu machen.

 

Aber ist es trotzdem nicht schwierig, sich so zu offenbaren? Es gibt ja auch Kritiker, die das beurteilen, was ihr macht und vielleicht bekommt ihr negatives Feedback.

Ric: Das ist tatsächlich oft sehr schwer, aber man muss es irgendwie ausblenden. Jeder hat seinen eigenen Geschmack und seine eigene Meinung. 

Matt: Danach darf man sich nicht richten.

Jamie Bush: Manchen Leuten gefällt auch das neue Album. Und es hat auch einen Wirkung auf manche von ihnen. Und das ist wichtig.

 

Die Themen auf eurem neuen Album sind, wie soll ich sagen... nicht besonders fröhlich.

Ric: Traurig.

Jamie F.: Todtraurig. (lachen)

 

Es geht um Verlust, Tod, Liebe, Entscheidungen usw. War es ein kathartischer Prozess, das Album zu schreiben? Fast therapeutisch?

Ric: Ja, es tut auf jeden Fall gut, das alles aufzuarbeiten und darüber zu sprechen. Auf persönlicher Ebene ist es sicher ein Ventil, Dinge zu sagen, die man im täglichen Leben nicht sagen kann. Es ist also auf jeden Fall ein kathartischer Prozess.

 

Und warum ist das Album so ernst?

Ric: Die Zeit, in der wir es schrieben, war nicht gerade die glücklichste in unserem Leben. Aber es ist ja nichts Ungewöhnliches. Bei jedem gehen mal Sachen schief. Bei uns sind nur viele traurige Dinge geschehen und das Album spiegelt das wieder.  Vielleicht wird das nächste Album viel fröhlicher. 

 

Das hoffe ich für euch! (alle lachen) Ich habe gelesen, dass ihr auf dem neuen Album Robert Frost zitiert. Ist es in einem bestimmten Song?

Ric: Ja, das erste Lied heißt „Road Not Taken“ und basiert auf einem seiner Gedichte. In dem geht es um zwei Wege, die durch einen Wald führen, man ist konfrontiert mit zwei Möglichkeiten und entscheidet sich für eine, weil man die andere nicht nehmen kann. Es geht darum, wie man damit umgeht und damit abschließt.

 

Seine Themen sind die grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz und die Einsamkeit des Individuums. Könnt ihr euch auch damit identifizieren?

Ric: Ja, ganz klar, zu 100%! Besonders dieses eine Gedicht hat mich sehr beeindruckt. Es geht um Entscheidungen, die man im Leben treffen muss und die man nicht zurücknehmen kann. Und irgendwie ist jeder tatsächlich allein, oder? Bei den Themen auf dem Album geht es darum, dass es Hoffnung gibt. Dadurch , dass wir Beziehungen eingehen und mit anderen Menschen interagieren. Das ist doch letztendlich, was zählt und uns von diesem dunklen Ort zurückholen kann. Wenn man über irgendwas zu lange nachdenkt, landet man an einem schlimmen Ort.

Jamie F.: Auf dem Album gibt es einen Hoffnungsschimmer, der gerade groß genug  ist, um noch Hoffnung zu vermitteln.

 

Ja, wenn ich die Lieder höre, dann ziehen sie mich auch nicht runter, weil die Melodien einen mitreißen. Sie sind so dynamisch. 

Jamie F.: Ja, beim Hören denkt man nicht unbedingt: „Ich habe Lust, mich jetzt umzubringen.“

 

Sie haben mich noch nicht in die Depression getrieben.

Jamie F.: (lacht) Das ist gut.

 

Ihr habt plötzlich euer Label verloren. Zieht einem das nicht den Boden unter den Füßen weg? Wie schafft man es in einem solchen Fall weiterzumachen?

Matt: Es war eigentlich unsere Entscheidung und wir sind immer noch mit demjenigen befreundet, der es führt. Aber wir wollten etwas Ambitionierteres machen und etwas Neues versuchen. Das war der Grund, warum wir das Label gewechselt haben.

 

Es war also eine bewusste Entscheidung.

Matt: Ja, wir wollten uns verändern. Das neue Album sollte mehr auf den Punkt sein. Von Big Scary Monsters zu Fatcat Records zu gehen, war jetzt auch nicht so ein riesiger Schritt, sie sind nicht Lichtjahre voneinander entfernt.

Jamie F.: Es ist nur ein etwas anderer Weg. Man will auf jedem Album etwas Neues probieren und das schien uns ein guter Weg, um das zu tun. Sonst macht man immer wieder dasselbe und entwickelt sich als Band nicht weiter. Mal schauen, wie das so läuft. (lachen)

 

Was sind für euch die Vor- und Nachteile des Musikbusiness, so wie es heute ist? Vor etwa neun Jahren habe ich mit den Futureheads gesprochen und die waren sicher, dass es in zehn Jahren, also dann nächstes Jahr, keine großen Labels mehr geben würde. Heute gibt es soziale Netzwerke, alles fing vor einigen Jahren mit MySpace an, wo den Bands ganz andere Möglichkeiten eröffnet wurden, ihre Musik unter die Leute zu bringen. Ist heute eine gute Zeit?

Jamie F.: Auf der einen Seite ist es natürlich toll, weil man so viel einfacher seine Musik veröffentlichen kann. Anderseits ist es auch schlecht, weil so viel mieses Zeug in Umlauf gebracht wird. Man muss also wirklich lange suchen, um etwas zu finden, was man wirklich mag.

Matt: Und die Leute kaufen sich auch kaum mehr Alben. Man investiert als Band so viel Zeit und Mühe in das Artwork, aber die Hörer laden sich das Album dann einfach irgendwo runter und skippen von einem Song zum nächsten. Natürlich kommen auch noch viele und schauen sich die Live-Shows an, aber man steckt so viel Arbeit in das Projekt, das sich Leute dann nur kurz anhören und das ist schade. Aber daran können wir nichts ändern.

Jamie F.: Man muss eben das Beste draus machen. Es ist doch sinnlos melancholisch zu werden und an die guten alten Zeiten zu denken, als eine  Band noch richtig gut verdient hat und alle Spaß hatten. Klingt super, ist aber nicht mehr so.

Matt: Um noch mal auf die Futureheads zu kommen: Ich glaube eher, dass es bald keine unabhängigen Labels mehr geben wird, weil sie alle von den großen aufgekauft werden. Es wird noch viele geben, aber die gehören alle Sony.

 

Matt, du hast das Artwork erwähnt. Das ist eine tolle Überleitung zu meiner nächsten Frage: Ric, du hast Fotografie und Illustration studiert, richtig?

Ric: Ich habe Fotografie studiert, Jamie B. war das mit Illustration.

 

Ok, ich frage deshalb, weil das Video zu „Meditations On Loss“ visuell sehr stark ist. Einige der Bilder sehen aus wie gut komponierte Fotografien. 

Jamie B.: Wir haben uns immer selbst um die visuellen Aspekte gekümmert. Schon unsere erste EP haben wir selbst gestaltet. 

Jamie F.: Wir drei haben alle Fotografie studiert und Jamie ist auf die Kunstakademie gegangen. Deswegen sind wir sehr kritisch, was das Visuelle angeht. 

Jamie B.: Bei diesem Video hat Rics Bruder Regie geführt und der Schauspieler ist Rics Cousin. Wir waren alle beim Dreh dabei und Lee, ein anderer unserer Freunde hat gefilmt. Wir haben alle mitgewirkt: Matt ist gefahren, Ric hat die Straßen abgesperrt, Jamie hing hinten aus dem Van raus.

 

 

Klingt abenteuerlich.

Jamie F.:  Ja, das war es wirklich! Alles was wir machen, machen wir selbst.

 

Ich finde den Look des Videos super. Sieht sehr professionell aus. (zu Ric) Und wie dein Cousin rennt, passt so wunderbar zur Musik. Weil sie so dynamisch ist.

Ric: Die Idee kam uns sehr schnell. Im Text geht es ja auch um dieses ständige Nach-vorne-Sprinten. Deswegen hat das echt gut funktioniert und wir sind auch sehr zufrieden mit dem Ergebnis. 

 

Jetzt sind wir schon bei der letzten Frage angekommen. Und die könnt ihr euch selbst stellen. Gibt es eine Frage, die ihr gerne mal hören und beantworten würdet?

Jamie F.: Etwas, das ich nicht über mich weiß?

 

Es geht eher um die Band. Das hier ist ja keine Therapiesitzung. (alle lachen)

Jamie F.: Also, bei mir wäre es, was die Zukunft so bringt. Nur ein kleiner Hinweis. Man weiß ja nie, was passiert. Selbst morgen. Wo wird die Band in einem Jahr stehen? Wir balancieren die ganze Zeit auf diesem Grat.

 

Aber will man das wirklich wissen? Also, nicht nur auf euch bezogen, aber jeder sagt immer, dass er die Zukunft kennen will, aber will man das wirklich?

Jamie F.: Vielleicht nur einen ganz kleinen Hinweis...

 

Den Massengeschmack werden sie nie bedienen, aber deswegen mag ich die vier sympathischen Jungs von der englischen Küste umso mehr. Es wäre ihnen definitiv zu wünschen, dass sie eine treue Fangemeinde um sich scharen und sich auf diese Weise einen festen Platz in dem so wankelmütigen, postmodernen Musikgeschäft sichern können.

 

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