Als wir vor dem Venue stehen und darauf warten, dass wir unser Interview mit Wolf Alice beginnen können, läuft deren Bassist nur in Socken (also nicht splitterfasernackt, sondern allein um die Füße herum leicht bekleidet) an uns vorbei zum Tourbus. Wie sich später herausstellt, wollte er sich für uns aufhübschen bzw. sich cooles Schuhwerk anlegen, weil er dachte, wir würden unser Gespräch filmen. Wer jetzt aber meint, der Band aus dem Norden Londons ginge es nur ums Äußere – weit gefehlt. Sie kann auch mit ihren inneren Werten überzeugen.
Und natürlich mit ihrer Musik. Doch dazu kommen wir später. Denn zuerst wollten wir von Theo Ellis (Bass) und Joel Amey (Drums) wissen, ob die heutigen Bands vernünftiger sind, warum ihr neues Album dunkler klingt als das erste und was sie von ihrer Karriere noch erwarten.
Ich steige mit etwas Traurigem ein: Heute vor zwei Jahren ist David Bowie gestorben. Könnt ihr euch erinnern, wo ihr wart, als ihr von seinem Tod erfahren habt?
Theo: Ich ich bin aufgewacht und ein Freund hat es mir erzählt. Ich war zwar nie ein riesiger Fan von David Bowie, aber trotzdem war ich total geschockt, weil er so eine feste Größe war.
Er wirkte immer, als sei er unsterblich.
T: Ja, und ist es nicht unglaublich, wie er mit „Black Star“ und „Lazarus“ aus seinem Sterben ein Kunstwerk gemacht hat?
Das dachte ich auch, besonders bei „No Plan“. Man kann genau hören, dass er wusste, dass er bald sterben würde. Ich konnte nicht aufhören zu weinen, als ich es das erste Mal gehört habe. Aber trotzdem hat es etwas Versöhnliches. Er hatte sich mit dieser Tatsache abgefunden.
Joel: Ich bin ein Bowie-Fan. Meine Mutter erzählte mir davon. Sie war am Boden zerstört. Für unsere Generation ist es vielleicht etwas schwer komplett nachzuvollziehen, was für einen Einfluss solche Leute haben, weil wir sie nicht von Anfang an erlebt haben. Ich habe mal gelesen, dass der Gitarrist einer Punkband, ich glaube es war Steve Jones von den Sex Pistols, gesagt hat, dass der Auftritt von den Spiders From Mars bei Top of the Pops sein Leben komplett verändert hat. Und seine Band hat das Leben von vielen anderen verändert und so weiter. Das ist wie eine kreative Lawine.
Hat er eure Arbeit in irgendeiner Weise beeinflusst?
J: Ich glaube nicht, dass man bei Wolf Alice etwas von David Bowie raushören kenn. Aber er hat so viele Künstler beeinflusst, die wir mögen... Das ist wie ein Baum mit tausend Ästen, da könnte man eine Wissenschaft draus machen.
Wo wir über Einflüsse sprechen: Einige eurer Lieder wurden schon in coolen Fernsehserien wie „The Leftovers“ oder Kinofilmen wie „T2“ verwendet. Ihr habt also einen Einfluss auf die Popkultur. Was für einen Einfluss hat die Popkultur auf euch?
T: Gute Frage... Ich glaube, die Popkultur beeinflusst uns alle, zumindest unbewusst, weil die Welt heute so interaktiv ist. Politik, Musik, Mode, Twitter, Instagram, das ist alles Teil der Popkultur. Über unsere Smartphones haben wir so viel schneller Zugriff auf alles. Aber dadurch sind die Menschen auch viel offener geworden und nicht mehr so auf Genres festgelegt. Mich hat die Popkultur mit am meisten beeinflusst. Als ich aufwuchs, waren Bands meine Religion.
Mich würde interessieren, wie das abläuft: Wenn eure Musik in einer Serie eingesetzt werden soll, werdet ihr vorher gefragt?
J: Ja. Und wir können zustimmen oder ablehnen.
Gibt es auch Sachen, für die ihr eure Musik nicht freigeben würdet?
J: Ja, eine Menge! Ganz offensichtliche wie die Konservative Partei oder Ölkonzerne. Die können uns mal.
T: Wir würden sie nie einer Firma zur Verfügung stellen, die Möwen tötet. Oder Marlboro – außer der Preis stimmt... (lachen)
J: Wir haben da schon unsere Prinzipien.
T: Es gibt also keinen wichtigen Typen, der einfach sagt, dass sie unsere Musik verwenden können. Zumindest haben wir noch nichts davon mitbekommen. (lacht)
Wird eure Musik mehr beeinflusst von anderen Bands, Literatur, Filmen oder anderem?
T: Sehr stark von allen dreien. Es gibt viele Verweise auf das Buch „The Girls“ von Emma Cline. Das hatte inhaltlich einen großen Einfluss auf den Song „Formidable Cool“ von unserem neuen Album.
Ich liebe das Buch! Es ist so unglaublich gut geschrieben und ziemlich starker Tobak...
J: Ich muss es unbedingt noch lesen.
T: Viele Ideen stammen auch aus Filmen. Und besonders viel kanalisieren wir bestimmte Emotionen in ganz speziellen Situationen. Auf Musik bezogen klingt das vielleicht etwas seltsam, denn wie klingen Gefühle? Wenn zum Beispiel ein Freund von dir nachts irgendwo hinfährt, um irgendwas zu tun – wie kann man das musikalisch wiedergeben?
J: Stimmt, das war ein größerer Teil des kreativen Prozesses, als ich es noch wusste. Wir haben oft über Szenenwechsel gesprochen. Das war unser Codewort. (lachen) Es ist ein sehr visuelles Album.
Hier kruschelt Theo mit der Alufolie, in die die Schokolade eingepackt ist, die direkt vor meinem Mirko liegt. Er bemerkt es sofort und kruschelt dann extra laut, was mir beim Abhören fast einen Hörsturz beschert hat. ☺ Als vorausgenommene Entschädigung bietet er uns von dem Naschkram an , der wie er merkt gar nicht so süß ist, weil die Schoki aus 85% Kakao besteht. Beim ersten Biss verzieht er angewidert sein Gesicht und flucht wie ein Rohrspatz, weil er mit nur 70% gerechnet hat.
T: Das ist ja mal gar nicht Rock’n’Roll!
Oh prima dass du Rock’n’Roll erwähnst, das ist die perfekte Überleitung zu meiner nächsten Frage! Die bezieht sich nämlich auf die Tour-Doku, die Michael Winterbottom von euch gedreht hat.
T: Auch gar nicht Rock’n’Roll.
Genau darauf will ich hinaus. Aber zuerst: Wie kam es dazu?
T: Er kennt unseren Manager noch aus der Zeit, als der mit Ash gearbeitet hat. Er suchte nach einer Band, die viel auf Tour war und die andere Seite des Tour-Alltags zeigen könnte, das Gegenteil des Rock’n’Roll-Klischees. Das war bei der Dokumentation sein Ziel. Wir trafen uns mit ihm und waren fasziniert von dem fiktiven Element, für das unsere Tour als Hintergrund dienen sollte. Zwei Schauspieler wurden ins Team eingebaut. Diese Verbindung von Wirklichkeit und Fiktion fanden wir sehr interessant. Am Ende ist es viel mehr eine Tour-Doku geworden, als wir es ursprünglich wollten. Aber wir hatten nur zum Teil Einfluss auf den Inhalt. Es ist sein Film. Auf jeden Fall ist er interessant, wenn man mal sehen will, wie langweilig das Touren eigentlich ist. Was nicht unbedingt das beste Image für eine Rock’n’Roll-Band ist.
Er hat auch „24 Hour Party People“ gedreht...
T: Guter Film!
Ja, sehr gut, aber total anders. Hat sich seit den 70er bis 90er Jahren viel verändert, wenn’s ums Touren geht? War das einfach eine andere Zeit?
T: In dem Film hat man viele Bands innerhalb der ersten sechs Monate ihres Bestehens gesehen. Wenn man uns in dieser Zeit gezeigt hätte, dann hätte man mich auf jeden Fall viel besoffener, aber sicher nicht lustiger oder intelligenter erlebt. Aber ab einem gewissen Punkt sind wir verantwortungsvoller geworden. Wenn wir am Abend einen Auftritt haben, können wir uns nicht so gehen lassen. „24 Hour Party People“ zeigt nicht, wie das Musikbusiness damals war, nämlich sehr lukrativ. Und das ist heuet ganz anders. Damals konnte man viel schneller viel mehr Geld verdienen. Heute ist die meiste Musik kostenlos und deswegen muss man einfach ununterbrochen touren, um davon leben zu können.
J: Er zeigt in den beiden Filmen zwei verschiedene Zeitpunkte in derselben Branche. Das ist ziemlich interessant. Aber um noch mal darauf zurückzukommen, dass wir etwas zahmer sind: Wir fühlen uns auch unseren Fans gegenüber verpflichtet. Shaun Ryder (Sänger der Happy Mondays, Anm. d. Red.) ist vielleicht gerne zugekokst vor 20.000 Menschen aufgetreten, aber ich würde das nicht.
Ich habe aber auch das Gefühl, dass die Bands sich geändert haben. Vor 10 Jahren hat man bei einem Interview direkt ein Bier angeboten bekommen. Heute trinken die Bands Wasser, oft auch auf der Bühne.
T: Ich wollte euch eigentlich eins anbieten... Ihr könnt das ganze Bier haben.
Nein, danke. (lache) Es kommt mir vor, als seien die Bands heute viel vernünftiger.
T: Ich glaube nicht, dass man das generell sagen kann, aber wenn man viele Konzerte spielt, kann kein Mensch jeden Abend Alkohol trinken.
Nur vielleicht Keith Richards...
J: Ja, aber auch nur, weil er sich Bluttransfusionen leisten kann. (lachen) Dann würde ich auch mehr trinken. (lacht)
T: Ich glaube, man wär einfach nicht sehr gut. Ich will gut sein, in dem, was ich tue. Diese alten Klischees ändern sich langsam, genauso wie sich vieles anderes in der Welt ändert. Bands müssen keine drogenabhängigen Idioten sein. (lachen)
Eine weitere Veränderung, die mir aufgefallen ist: Es gibt mehr junge Bands, die politisch sind. Ihr habt bei „Bands 4 Refugees“ mitgemacht und Leute aufgefordert wählen zu gehen. Wir haben letzte Woche erst Yungblud gesehen (hier geht’s zum Konzertbericht), einen jungen Typen aus Doncaster, der wie The Blinders, die ebenfalls aus dieser Stadt kommen, politische Texte schreibt. Meine Theorie ist, dass der Brexit wie ein Weckruf für junge Leute war und sich das auch auf die Musikszene auswirkt.
T: Ja, ich glaube, es war ein starker Katalysator, der viele Menschen zum Umdenken gebracht hat und dazu, ihre Stimme zu nutzen. Bei uns persönlich ist es so, dass wir jetzt, mit Mitte zwanzig, wissen, was wir den Leuten sagen wollen. Unsere Musik ist nicht wirklich politisch, sie ist eher...
J: Introspektiv.
T: Genau. Aber wir benutzen unseren Einfluss, um Dinge zu kommunizieren, bei denen wir vier uns einig sind. Die Bands, die du erwähnt hast, kenne ich gar nicht.
Yungblud und The Blinders. Sie sind beide aus Doncaster. Vielleicht ist das das Epizentrum einer neuen Protestbewegung.
T: Das hoffe ich! (lachen) Da war ich noch nie.
Kommen wir mal zu eurem neuen Album. Es ist etwas lauter und dunkler als das erste. Wie kam das?
J: Es wurde davon beeinflusst, wer wir geworden sind, wie sich unser Geschmack verändert hat und was wir erlebt haben. Es hängt viel von Ellis Texten ab. Wenn die dunkler sind, wird auch die Musik dunkler. Vieles basiert auf Emotionen, es ist sehr introspektiv. Alles basiert auf unserer Realität. Und das hieß in den letzten Jahren, dass wir nicht oft zu Hause waren, dass sich Beziehungen verändert haben und das drücken wir im neuen Album aus. „My Love Is Cool“ war das Spiegelbild einer längeren Zeitspanne. „Visions Of A Life“ gibt nur zwei Jahre wieder. Es passt auch mehr zu unserem derzeitigen musikalischen Geschmack. Außerdem beherrschen wir unsere Instrumente besser, können sie aggressiver spielen und ausgefallenere Dinge mit ihnen machen.
Es ist auch abwechslungsreicher. Man hört viele unterschiedliche Einflüsse. Ich finde, die Videos zu „Yuk Foo“ und „Beautifully Unconventional“ zeigen sehr gut die beiden Seiten des Albums: Das erste ist laut und aggressiv, das andere eher ruhig im Stil der 50er Jahre, also sehr gediegen. Welcher Dreh hat mehr Spaß gemacht?
T: „Beautifully Unconventional“.
J: Ja, das fand ich auch. Wir haben nur sieben Stunden gebraucht.
T: Sonst dauert es viel länger.
J: Das Video zeigt auch eine andere Seite von uns: dass wir uns gerne verkleiden. Andrew, der Regie geführt hat, hat alles auch sehr ernst genommen. Irgendwie sind beide dasselbe Video, aber eins ist für eine Punkband und das andere für eine Band aus den 50er Jahren.
Ihr habt in recht kurzer Zeit schon einiges erreicht. Was wäre das Tollste, dass in eurer Karriere passieren könnte?
T: Es wäre unglaublich, wenn es so weitergehen würde wie bisher. Ausverkaufte Shows spielen, kreative Freiheit genießen... Viel mehr können wir uns eigentlich gar nicht wünschen. Damit will ich nicht sagen, dass mir das genügt. Ich will mehr. 90% Kakao! (lacht)
J: Wir wollen weiterhin die Musik machen, die wir machen möchten.
T. Und 50 Tausend Millionen Pfund!
Ich liebe Musik weil...
T: ....sie die Dinge ausdrückt, die man nicht durch Worte oder Taten ausdrücken kann.
J: ...sie das Einzige ist, was ich je richtig verstanden habe.
Bei ihrem Konzert im ausverkauften Ampere beweisen sie dann eindrucksvoll, dass sie vielleicht nicht viel trinken und auch nicht dem Klischee einer Rock-Band entsprechen, aber trotzdem alles andere sind als zahm. Sängerin Ellie Rowsell, die einer feingliedrigen Elfe gleicht, säuselt mal verträumt ins Mirko, bevor sie dann wieder all ihre Wut förmlich rausspuckt. Das Zusammenspiel der Band gleicht einer symphonischen Achterbahnfahrt, bei der man sich mal sanft im Takt hin und her wiegen kann, um sich beim nächsten Song todesmutig in die entstandene Moshpit zu schmeißen.
Gitarrist Joff Oddie schleudert seine Gitarre um sich und entlockt ihr so, ohne sie richtig zu spielen, skurrile Klänge, die sich perfekt in den melodischen Krach einreihen. Der Abend ist nichts weniger als ein grandioses Erlebnis und wenn die vier so weitermachen, kann das schon noch was werden mit den 50 Tausend Millionen Pfund.